Der Deutsche Ethikrat hat jetzt eine Stellungnahme zu Eingriffen in die menschliche Keimbahn veröffentlicht. Wolfgang Nellen kommentiert:
Ich habe das Dokument (234 Seiten) noch nicht im Detail durchgearbeitet. Voraussichtlich werden sich bei genauerem Lesen weitere Kommentare ergeben. Niemand sollte sich von der Länge der Stellungnahme abschrecken lassen – sie ist überraschend einfach und verständlich geschrieben! Auf den ersten Blick ergeben sich für mich drei wesentliche Punkte:
- Zurzeit ist die Technologie nicht ausreichend sicher, um sie in der menschlichen Keimbahn einzusetzen. So lange die Risiken zu hoch sind, ist eine Anwendung in der menschlichen Keimbahn ethisch nicht vertretbar.
- Wenn die Hürde der technischen Sicherheit überwunden wird bzw. werden kann, sollen Eingriffe in die menschliche Keimbahn nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Wo dabei ggf. Grenzen zu setzen sind, bedarf einer politischen bzw. gesellschaftlichen Entscheidung.
- Der Ethikrat fordert die Bundesregierung auf, sich für eine international verbindliche Regelung einzusetzen. Weiterhin soll ein internationales Gremium global akzeptierte wissenschaftliche und ethische Standards entwickeln.
Weiterhin fordert der Ethikrat eine breite gesellschaftliche Diskussion zu genetischen Eingriffen in die menschliche Keimbahn.
Ich hatte vor dem Erscheinen der Stellungnahme die Befürchtung, dass manche Probleme unausgesprochen bleiben und Scheinlösungen vorgelegt werden, die dem politischen Mainstream entsprechen. Dies ist, nach meinen bisherigen Einblicken nicht der Fall. Die Stellungnahme des Ethikrats ist detailliert und berücksichtigt sehr viele Aspekte, die in der Diskussion oft untergehen. Die Komplexität von Entscheidungen wird gut zum Ausdruck gebracht. Dadurch wird nicht etwa ein „Handbuch“ für ethisches Handeln vorgelegt, sondern es werden viele Fragen aufgeworfen, für die im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs Lösungen gefunden werden müssen. Wie schwierig dies werden kann, wird nicht verschwiegen.
Ad 1.: Dass die Technologie ausreichend sicher sein muss, bevor sie in der menschlichen Keimbahn zur Anwendung kommt, ist auf den ersten Blick trivial – dann aber doch nicht. Denn was „ausreichende Sicherheit“ bedeutet wird beispielsweise in der Pflanzen-Gentechnik sehr kontrovers gesehen. Während Befürworter 30 Jahre „unfallfreie“ Gentechnik und sehr aufwändige Sicherheitsforschung für viele 100 Mio Euro als „ausreichend sicher“ betrachten, werden von Skeptikern weitere Sicherheitsforschung, Langzeitexperimente oder gar der Nachweis 100-prozentiger Sicherheit gefordert. Der Ethikrat weist auf die Kalkulation des Risikos hin (möglicher Schaden multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Schadensereignis eintritt), betont aber gleichzeitig, dass diese Berechnung bei komplexen Systemen teilweise unzuverlässig oder gar nicht möglich sein mag. Der Begriff der „ausreichenden Sicherheit“ könnte folglich bereits zu einer heftigen Kontroverse führen.
Ad 2.: Der Ethikrat argumentiert, dass (bei ausreichender Sicherheit) gentechnische Eingriffe in die Keimbahn in bestimmten Fällen sogar ethisch zu fordern wären. Er stellt gleichzeitig fest, dass es breite Grauzonen gibt, die sich mit fortschreitender Wissenschaft verschieben können. Selbst die „genetische Optimierung“ wird nicht kategorisch abgelehnt. Dabei wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Chancengleichheit gewährleistet werden muss.
Ad 3.: Die Forderung nach international akzeptierten Regeln sowie wissenschaftlichen und ethischen Standards ist zweifellos richtig. Der Ethikrat stellt jedoch auch fest, dass dies sehr schwierig wird. Er geht nicht im Detail auf die Problematik ein, offensichtlich ist jedoch gemeint, dass sich ethische Regeln (nicht nur in Bezug auf die Gentechnik!) in Abhängigkeit von Religion, politischem System und ethnischem Hintergrund wesentlich unterscheiden können.
Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats ist kein Rezeptbuch für ethisches Handeln in Bezug auf Eingriffe in die menschliche Keimbahn – und das ist gut so! Sie ist eine Herausforderung an die Gesellschaft, sich in einem wissensbasierten Diskurs rational mit einer unausweichlichen Technologie auseinanderzusetzen.
Es ist zu hoffen, dass sich die Gesellschaft dieser Aufgabe stellt und ihr gewachsen ist.
Bildnachweis: Deutscher Ethikrat/Foto: Reiner Zensen