Was ist eigentlich Grundlagenforschung und braucht man die wirklich?

Wenn Wissenschaftler den „Normalbürgern“ erklären, woran sie arbeiten, gibt es oft nur verständnisloses Schulterzucken. Das liegt einerseits daran, dass Wissenschaftler ihre Wissenschaft studiert haben und eben nicht Wissenschaftskommunikation. Zum anderen liegt es daran, dass in unserer Gesellschaft das Verständnis für Grundlagenforschung vielfach abhanden gekommen ist.

Die alten philosophischen Grundfragen wurden weitgehend durch die Frage „wofür ist das nützlich?“ abgelöst. Die Frage nach einem Nutzen ist nicht „falsch“ – aber sie sollte nicht immer und unbedingt an erster Stelle stehen. Wissenschaftler sind oft von Neugier getrieben. Wenn ihre Forschung keinen offensichtlichen Zweck, d. h. potenziellen Nutzen verfolgt, ist sie dann nicht nur ein „Hobby“? Ist es gerechtfertigt, dafür viel Geld aus öffentlichen Mittel auszugeben?

Die Antwort ist aus mehreren Gründen ein unbedingtes „Ja“.

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Illustration: Florian Biermeier

Die Neugier der Menschen ist keineswegs abhanden gekommen. Am besten ersichtlich ist das in der Astronomie. Der Weltraum, die Entdeckung neuer Planetensysteme und die Raumfahrt haben eine ungeheure Faszination. Selbst ein „Schwarzes Loch“, das weder Krebs heilt noch die Welternährung sichert, macht weltweit Schlagzeilen. Die Fragen nach einem Nutzen sind sekundär. Wir wollen wissen, was da draußen los ist, ob wir alleine im Universum sind oder ob es irgendwo anderes Leben gibt. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, spielt eine untergeordnete Rolle. Wir wollen es einfach nur wissen.

Der Hang zur Forschung, zur Erkundung von Unbekanntem ist beim Menschen besonders stark ausgeprägt, aber nicht auf ihn beschränkt. Bei Mäusen findet man „abenteuerlustige“ und „risikoscheue“ Individuen. Kreuzt man immer wieder die „Abenteurer“ so nimmt die Neugier von Generation zu Generation zu: Die Tiere trauen sich häufiger aus der sicheren Deckung, sie gehen Risiken ein – und entdecken vielleicht neue Futterquellen und neue Siedlungsräume. Neugier hat genetische Komponenten und ist eine gewaltige Triebfeder der Evolution. Ohne Neugier, d. h. auch ohne Forschung, würden wir ein wesentliches Merkmal der Natur verlieren.

Auch der moderne Mensch unterliegt ständigen Änderungen seiner Umwelt, teilweise, aber nicht nur, von ihm selbst hervorgerufen. Anpassung und Entwicklung sind erforderlich, um das Überleben der Art zu sichern.

Während „abenteuerlustige“ Mäuse ungezielt herumlaufen, um ihre Umwelt zu erforschen, setzt der Mensch immer mehr auf zielgerichtete Forschung. Dazu werden z. B. große Programme zur Heilung von Krebs oder zur Prävention von Demenz aufgelegt. Das ist gut und richtig – man darf jedoch nicht vergessen, dass diese Programme eine Basis brauchen.

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Illustration: Florian Biermeier

Die neugierige Maus kommt nicht aus ihrem Loch mit dem Plan, die neue Futterquelle „Schokokeks“ zu finden. Sie entdeckt bei ihren Erkundungen irgendwann den Schokokeks (den sie zuvor überhaupt nicht kannte) und stellt fest, dass er einen hohen Nährwert hat. Nebenbei stellt sie noch fest, dass Chilischoten unangenehm schmecken und dass ein Mitglied der Familie beim Knabbern an einem Stromkabel tragisch verstorben ist. Sie wird diese Dinge in Zukunft meiden. Sie findet auch heraus, dass Plastiktüten uninteressant und Kuscheltiere zwar ungefährlich, aber für nichts zu gebrauchen sind. Vielleicht kommt einer ihrer Nachkommen aber irgendwann auf die Idee, ein Kuscheltier anzunagen und die Füllung als Nestmaterial zu benutzen.

Der menschliche Forschungsdrang hat inzwischen andere Dimensionen. Wissenschaft ist sehr komplex geworden und erscheint Laien oft unverständlich (ist sie aber nicht unbedingt!). Der gesellschaftliche Druck, „produktiv“ und „nützlich“ zu sein, darf in der Grundlagenforschung, ebenso wie in der Kunst, nicht gelten! Bei beiden sind die Langzeitwirkungen des Ausprobierens und Experimentierens nicht vorhersehbar: Manchmal sind sie bahnbrechend, manchmal erscheinen sie (zunächst) nicht besonders relevant.

Ein Beispiel: 1993 fand man sogenannte miRNAs in Nematoden, das sind kleine Würmer im Boden, und stellte fest, dass sie eine wesentliche Rolle in der Entwicklung spielen. Ist das von Interesse, wenn man kein Nematode ist? Nach vielen weiteren Jahren reiner „Neugierforschung“ weiß man heute, dass es miRNAs in fast allen Organismen gibt, und in der Medizin sind sie zu einem sehr wichtigen Werkzeug zur Früherkennung von Krebs geworden. Eine zielgerichtete Forschung zu miRNAs als Krebsdiagnose war nicht möglich – man wusste bis 1993 überhaupt nicht, dass es sie gab! Das ist ähnlich wie bei der Maus, die auch nicht auszog, um einen Schokokeks zu finden, – sie fand ihn, weil sie ihre Umwelt erforschte, und ohne vorher zu wissen, dass solche Leckereien überhaupt existierten.

Bei manchen Ergebnissen der Grundlagenforschung kann sich erst nach Jahrzehnten herausstellen, dass sie für etwas nützlich sind, bei manchen vielleicht nie. Eine strenge Kosten-Nutzen-Kalkulation ist nicht möglich. Wir wissen aber, dass wir ohne Grundlagenforschung keine neuen Entdeckungen machen können und es keine Innovationen geben wird.

Ob die Ergebnisse unseres CRISPR-Cas-Schwerpunktprogramms in 5 Jahren, in 20 Jahren oder nie zu bahnbrechenden Anwendungen führen, ist nicht voraussagbar. Es ist aber voraussagbar, dass wir keine neuen Anwendungen finden werden, wenn wir keine Grundlagenforschung betreiben.

Autor: Wolfgang Nellen

Illustrationen: Florian Biermeier


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